Radfahren im Kopf - Was wir alles lernen können...

Eine kleine Radfahrschule für kritische DenkerInnen in 10 Lektionen.

1. Lektion: Einleitung
Wenn ich bei meinen Vorträgen gelegentlich sage, Radfahren müsse im Kopf beginnen, ernte ich manchmal ein Kopfschütteln. Denken wir nicht beim Radeln zuerst an die „Wadeln“? Was ich damit sagen möchte, beruht jedoch auf langen Beobachtungen: Viele Menschen sind fixiert auf bestimmte Ideen, warum in gewissen Situationen Radfahren nicht möglich sei. Daher verwenden sie das Auto. Ist es nur die Macht der Gewohnheit oder steckt da mehr dahinter? Wenn Sie sich intensiv mit der Frage befassen wollen, wie weit unser Auto schon in unserem Denken verwurzelt ist und keine anderen Vorstellungen zulässt, dann lesen Sie das Buch „Virus Auto“ des Verkehrswissenschafters und emeritierten Professors der Technischen Universität Wien Hermann Knoflacher. Ich aber möchte Ihnen aus meinen Erfahrungen erzählen.
 
2. Lektion: Fahrrad oder Auto? – das ist hier die Frage
Was haben denn Auto und Fahrrad mit Shakespeares Hamlet gemeinsam?
Autos haben – und das wird oft verdrängt – neben aller Bequemlichkeit ein enormes zerstörerisches Potential, von dem die Verkehrsunfälle nur ein winziger Teil sind. Allein die Autoabgase verursachen in Österreich jährlich ca. 2400 Todesopfer, dreimal so viele wie die Unfalltoten. Dazu kommen Schäden durch Lärm und vor allem durch den von Jahr zu Jahr höheren Treibhausgaseffekt, der über viele Generationen weiter wirkt und weltweit jährlich zigtausende Todesopfer und Millionen Klimakatastrophenopfer fordert.
Radfahren hingegen hat eine große Anzahl positiver Effekte auf die Gesundheit. Radfahren rettet in Österreich laut Berechnungen des Lebensministeriums jährlich 412 Menschenleben und spart fast eine halbe Milliarde Euro an Gesundheitskosten. Denn regelmäßige Radfahrer leben gesünder, verursachen weniger Medikamenten- und Behandlungskosten und haben weniger Krankenstandstage. Die Österreichischen Radfahrer leisten also einen enormen Beitrag zum Gesundheitswesen. Dabei radeln die österreichischen Radler im Durchschnitt kaum 200 km im Jahr. Dieser Effekt kann also noch deutlich gesteigert, ja vervielfacht werden.
 

3. Lektion: Kinder und Zukunft
Wenn wir an die Zukunft unserer Kinder und Enkel denken, müssen wir uns klar machen, dass das Auto mit Verbrennungsmotor in seiner heutigen Form nicht zukunftsfähig ist. Schon heute ist die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre so hoch, dass noch über viele Jahre hunderte Millionen Menschen durch die daraus resultierenden Klimakatastrophen in Hunger und Elend gedrängt werden. Wir müssen so rasch wie möglich das Verbrennen fossiler Energie beenden. Selbst wenn wir jede Verbrennung fossiler Energie sofort stoppen könnten, würde ja die Erdtemperatur allein durch die bisherige Belastung aus verbrannter Kohle, Öl und Gas noch über Jahrzehnte um weitere 0,7 Grad ansteigen. Wollen wir uns von unseren Enkeln einmal vorwerfen lassen: Ihr seid von der Wissenschaft gewarnt worden, warum habt Ihr weiter Öl in Autos und Heizungen verbrannt?
 

4. Lektion: Nicht nur Herz und Lunge
Gelegentlich, aber seltener höre ich noch Kommentare: Ob denn das so gesund sei, den Berg am Rad hinaufzustrampeln? Tatsache ist, dass die gesundheitsfördernden Effekte des Radfahrens laut einer britischen Studie zwanzigmal so groß sind wie die Risiken. Nicht nur Herz- und Lungenerkrankungen, sondern auch Stoffwechselkrankheiten, Infekte, einige Krebsarten, cerebrale Erkrankungen, Osteoporose, Rückenschmerzen und andere Krankheiten treten bei Radfahrern signifikant seltener auf. Das beweisen auch mehrere Untersuchungen aus Skandinavien, der Schweiz und Deutschland.
 

5. Lektion: Das Paradoxon
Wenn das alles so klar und einleuchtend ist, warum wird das Fahrrad nicht viel mehr verwendet? Das ist wohl eine der interessantesten Fragen, die sehr viel psychologischen Hintergrund hat. Veraltertes Prestigedenken, Identifikationen, Klassendenken, Bequemlichkeit, obskure Ängste usw. Wer das einmal durchschaut hat, wird lernen, durch kreative Ideen seinen Alltag zu verändern. Auch ich bin als Landarzt von ursprünglich 30.000 jährlichen Autokilometern auf unter 2.000 Kilometer (dringende Patientenvisiten) heruntergekommen und mache den Rest mit Rad und Bahn. Aber es gibt Menschen, die haben keine dringenden Visiten zu fahren, und legen dennoch 10.000 und mehr km mit dem Auto zurück, der durchschnittliche Österreicher fährt fast 15.000 Autokilometer im Jahr. Warum sind wir so unfähig, unsere Bedürfnisse und Servicedienste im Nahbereich und ohne fossile Verbrennung zu befriedigen?
Viele der oft genannten Gründe, nicht Rad zu fahren, überzeugen mich meist nicht mehr, weil ich weiß, gesehen und ausprobiert habe, dass es auch anders geht. Übrigens: Wenn Sie am Jahresende feststellen, dass Sie über 4000 km Auto gefahren sind, können Sie sicher sein: das ist nicht zukunftsfähig.
 

6. Lektion: Aber im Winter…
Ja, aber im Winter, da ist es doch zu kalt zum Radfahren und außerdem zu gefährlich. Immer wieder wird dies geäußert. Interessant ist: Diejenigen, die das stur behaupten, sind meist Menschen, die selber gar nicht im Winter Rad fahren. Es ist also schlauer, eine der vielen Winterradlerinnen oder Winterradler zu fragen, wenn man selbst unsicher ist. Nach jüngsten Umfragen ist schon jeder dritte Radler auch Winterradler. Autofahren ist übrigens im Winter wesentlich gefährlicher als Radfahren, da die kinetische Energie mv2/2 und damit das Zerstörungspotential eines Fahrzeugs proportional zum Gewicht und zum Quadrat der Geschwindigkeit ist. Ein Auto mit fünfundsechzig Stundenkilometern hat etwa die hundertfache kinetische Energie eines Radfahrers mit zwanzig Stundenkilometern. Tatsächlich verursachen Autos auch viel größere Schäden als RadlerInnen.
 

7. Lektion: Aber zum Einkaufen braucht man doch ein Auto…
Wieder ist es oft Denkfaulheit und ein Mangel an Kreativität. Das Fahrradmagazin Drahtesel brachte einen Bericht über die Übersiedlung einer Familie mit Fahrrädern, Fahrradanhängern und Lastenrädern, und ich könnte mindestens zwanzig Anekdoten erzählen, wie ich einen Tisch am Fahrrad heimbrachte oder vier Blumenstöcke, Matratzen, Restmüllsäcke und andere große Gegenstände transportierte. Wie oft werde ich von verwundert Zusehenden gefragt, warum ich kein Auto nehme. Schon bei Gegenständen, die kaum zwanzig Kilogramm haben. Und es sind täglich Tausende, die für einen ganz gewöhnlichen Haushaltseinkauf ein Auto verwenden statt ein Fahrrad mit einem Korb oder mit zwei Packtaschen.
 

8. Lektion: Die liebe Zeit
Wie oft höre ich das Argument, man habe keine Zeit zum Radfahren. Tatsächlich ist man in der Stadt mit dem Rad oft schneller als mit dem Auto. Wer 10 km in die Arbeit hat, braucht per Rad ca. eine halbe Stunde, da ist die ideale gesunde Sportzeit von zweimal täglich eine halbe Stunde gleich integriert. Und man muss sich am Abend nicht mehr aufraffen, ins Fitnesscenter oder zum Sportclub zu fahren.
 

9. Lektion: weitere Strecken.
Weitere Strecken legt man am besten in Kombination von Rad und Bahn zurück. So kann man fast ganz Europa bereisen. Die Bahn ist ja nach dem Fahrrad das umweltfreundlichste Verkehrsmittel, die Treibhausgasbelastung ist weniger als ein Zehntel derjenigen des Autos. Aber bitte von zuhause wegradeln! Immer höre ich von Radtouren, bei denen mit dem Auto samt geladenen Fahrrädern sogar mehrere hundert Kilometer angereist wird. Diese Anreise- Hinbring- und Abholdienste mit dem Auto machen oft so viele Kilometer aus, dass die gesamte Ökobilanz der Radtour nicht besser ist, als wäre man alles mit dem Auto gefahren.
 

10. Lektion: Aber es gibt doch Situationen, in denen es nicht ohne Auto geht…
Vor hundert Jahren war ein Leben ohne Auto noch selbstverständlich. Und ich habe in Gegenden Afrikas und Lateinamerikas als Arzt gearbeitet, wo auch heute weitgehend nachhaltig gelebt wird. Die Bedrohung und Zerstörung kommt dort meist von außen.
Dennoch wird man in unserer Gesellschaft heute eingestehen müssen, dass für alte Menschen, Kranke, Behinderte und für kleine Kinder Autos in manchen Fällen erforderlich sind. Aber das sollte auch weitgehend auf diese Fälle beschränkt bleiben und mit umweltfreundlichen Autos wie z.B. Elektro- oder Hybridfahrzeugen bewerkstelligt werden.
Wir wissen, dass wir eine neue Nachhaltigkeit ganz dringend anstreben müssen, wenn wir die Welt nicht weiter zerstören wollen. Und wir haben heute viele technische Möglichkeiten und – global betrachtet - ein enormes humanes Potential.
Radfahren kann dabei eine ganz besondere Schlüsselfunktion haben, wie ich im „Prinzip der dreifachen Entlastung“ ausgeführt habe.
Wir sollten also unsere Kreativität herausfordern und eingefahrene Gewohnheiten und Denkschemata über Bord werfen. Also auf zum Radeln im Kopf!

P.S.: Vielleicht denken Sie jetzt: Na, das ist aber schon ein bisschen extrem, übertrieben..
Dann sage ich: angesichts von Peak Oil, der rapide steigenden Zahlen der Klimawandelopfer und der resultierenden zunehmenden Hungersnot kann man gar nicht provokant genug sein.

2. P.S.: Weil ich immer wieder beobachtete, wie schwer manchen das Radfahren schon im Kopf fällt, habe ich 2006 das interaktive Lernspiel MOBILITY und die MOBILITY-Workshops als Lern- und Trainingsmöglichkeit zum Mobilitätsumstieg entwickelt. Siehe: MOBILITY - Workshops, 2011 von der UNESCO als DEKADENPROJEKT der BILDUNGSDEKADE für NACHHALTIGE ENTWICKLUNG ausgezeichnet.

Autor:
Dr. Klaus Renoldner, Arzt und täglicher Radfahrer, Autor zahlreicher Arbeiten über Radfahren und Gesundheit. www.renoldner.eu

 

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